Mut zur Amerikanisierung

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Sarante

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Mut zur Amerikanisierung

Otto Schily macht sich für eine neue transatlantische Partnerschaft der Freiheit stark: Ein Plädoyer für mehr Eigenverantwortung, Individualität und Kreativität

von Otto Schily



Europa befindet sich in einer Krise. Darüber kann man nicht schweigen, wenn man von transatlantischen Beziehungen sprechen will. Denn eine starke Partnerschaft braucht starke Partner. Daher zunächst eine kurze Vorverständigung zur Lage Europas.



Die Ablehnung des Verfassungsvertrags in Frankreich und den Niederlanden ist unbestreitbar ein herber Rückschlag für den europäischen Einigungsprozeß.



Gewiß: Es sind nicht die ersten Hürden auf dem Weg zu einer starken Europäischen Union, die wir derzeit beklagen. Das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, das Veto de Gaulles gegen einen Beitritt der Briten, das erste Nein, der Dänen zum Vertrag von Maastricht - noch immer hat das Projekt Europa neue Wege gefunden und neue Dynamik gewonnen. Wir dürfen uns daher nicht in eine Untergangsstimmung treiben lassen. Ein Scheitern des Verfassungsvertrages wäre nicht das Ende Europas und der europäischen Einigungsbemühungen.



Wir sollten die aktuellen Schwierigkeiten aber ebensowenig unterschätzen. Die erweiterte EU ist größer und vielstimmiger geworden, die gemeinsame Verständigung im Kreis von 25 Mitgliedsstaaten ist bei weitem schwieriger als zuvor. Gerade daher sind die institutionellen Reformen, wie der Vertrag als neuer Grundvertrag für die Union sie vorsieht, für die Zukunft unerläßlich.



Fatal wäre es jedoch, panikartig das bereits Erreichte zur Disposition zu stellen. Vor allem sollten wir uns nicht darin beirren lassen, daß der Euro - allen anfänglichen Unkenrufen zum Trotz - ein großer Erfolg ist. Die Währungsunion dürfen wir nicht aufs Spiel setzen, denn sie ist nicht nur von großer wirtschaftlicher, sondern auch von ebenso großer politischer Bedeutung. Wer politisch ernstgenommen werden will, für den bleiben eine Auflösung der Währungsunion und eine Aufgabe des Euro außerhalb jeder vernünftigen Diskussion.



Auch im Bereich der inneren Sicherheit kann und darf sich Europa keinen Rückschritt leisten. Die Europäische Union ist längst nicht nur ein großer Wirtschaftsraum von erheblicher Anziehungskraft auf unsere Nachbarstaaten. Europa ist zugleich der weltweit größte Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Mit mehr als 450 Millionen Menschen ist die EU derzeit um mehr als die Hälfte bevölkerungsreicher als die Vereinigten Staaten.



Wir zaudern und zögern

Im historischen Vergleich ist die europäische Geschichte der vergangenen Jahrzehnte ein erstaunlicher und einzigartiger Erfolg.



Zu Beginn des dritten Jahrtausends zeichnet sich unser Subkontinent ungeteilt aus durch die Errungenschaften der europäischen Geschichte: Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Hochkultur und Allgemeinbildung, verbreiteten Wohlstand und soziale Sicherung, beständige Fortschritte in Wissenschaft und Technik. Und es besteht die begründete Hoffnung, daß in Europa dauerhaft keine Kriege mehr geführt werden.



Dennoch fehlt es vielen Europäern an Selbstbewußtsein. Wir Europäer - und erst recht wir Deutsche - verlegen uns allzuoft lieber aufs Zaudern und Zögern, anstatt tatkräftig Neues zu erkunden. Mehr Selbstbewußtsein, Mut und Zuversicht täte uns sicher gut - und ein wenig mehr amerikanischer Pragmatismus und Optimismus. Ich glaube aus Erfahrung und aus Überzeugung an ein starkes und stabiles Europa, an ein Europa, das eine friedensstiftende, freiheitsfördernde, verantwortungsvolle, wirkungsreiche und verläßliche Rolle in der Welt spielen kann. 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und auch in Zukunft dürfen wir nicht aus dem Gedächtnis verlieren, wem wir zuallererst diese glückliche Entwicklung der Geschichte verdanken.



Welches Leben hätten wir Europäer in den letzten 60 Jahren ohne den Beitrag Amerikas führen können? . . .



Es waren Amerikaner, ohne die sich Freiheit und Demokratie in Europa nicht hätten entwickeln und behaupten können. Es waren Amerikaner, ohne die Europa seine Teilung nicht überwunden und seine Einheit nicht erlangt hätte. Das ist die Substanz einer vertrauensvollen Partnerschaft und festen Freundschaft, die auch durch gelegentliche Meinungsunterschiede nicht in Gefahr gebracht werden kann.



Was können und was wollen wir nun gemeinsam erreichen?



In dieser Frage steckt eine Prämisse: daß wir, Europa und Amerika, überhaupt gemeinsam handeln wollen.



Aber daran kann es meines Erachtens gar keinen Zweifel geben. Der amerikanische und der europäische Traum sind kein Gegensatz, wie ihn neuerdings manche herbeireden wollen.



Die jüdisch-christlichen Wurzeln sind unsere gemeinsamen Wurzeln. Die Aufklärung ist unser gemeinsames europäisch-amerikanisches Erbe. Wir teilen gemeinsame Werte, und wir haben - neben mitunter konkurrierenden - auch gemeinsame Interessen.



Dabei geht es um vitale Interessen beider Seiten, vor allem Sicherheitsinteressen, die wir nur in einer dauerhaften strategischen Partnerschaft verfolgen können.



Aus diesem Grund stehen deutsche Soldaten ebenso wie amerikanische in Afghanistan. Wir versuchen gemeinsam zu verhindern, daß der Iran zu einer militärischen Atommacht wird. Wir versuchen gemeinsam, den Friedenprozeß im Nahen Osten zu fördern ...



Der wichtigste Wert, den gerade wir Europäer - so hoffe ich - nach der leidvollen Erfahrung von Diktatur und Tyrannei nicht hoch genug zu schätzen wissen, ist der Wert der Freiheit.



Und wir wissen ebenfalls aus eigener Erfahrung, daß Freiheit erkämpft und verteidigt werden muß. Ich erinnern mich noch sehr gut an die Inaugural Adress von Präsident John F. Kennedy im Jahre 1961:



"Jede Nation soll wissen", so sagte er, "gleichgültig, ob sie uns wohlgesinnt ist oder nicht, daß wir jeden Preis zahlen, jede Bürde auf uns nehmen, keine Mühsal scheuen, jeden Freund unterstützen, uns jedem Gegner entgegenstellen werden, um das Überleben und den Erfolg der Freiheit zu sichern."



Damals ging es für uns zuallererst um das Überleben und den Erfolg der Freiheit in Europa. Die Europäer in Ost und West, vor allem die Menschen im geteilten Deutschland und hier in Berlin, waren dankbar für Kennedys deutliche Worte.



Wie reagieren wir heute auf Amerikas Entschlossenheit, Überleben und Erfolg der Freiheit in der Welt zu sichern?



Aus meiner Sicht reagieren viele Europäer zu verhalten und kritisch, oft geradezu mißtrauisch.



Unsere amerikanischen Freunde verdienen jedoch unser Vertrauen und unsere Unterstützung, wo immer sie sich für die Ausbreitung von Freiheit und Demokratie einsetzen ...



Der beste Weg zum Frieden in der Welt ist die Ausbreitung von Freiheit und Demokratie. Bekanntlich führen Demokratien keine Kriege gegeneinander. Die Befriedung nach innen durch die Praxis demokratischer Freiheiten wirkt auch nach außen friedensstiftend.



Die Hoffnung auf die Ausbreitung von Freiheit und Demokratie sollte nicht als weltfremder "demokratischer Idealismus" belächelt werden. Es ist ein Idealismus, der die Welt verändert und tatsächlich schon verändert hat.



Die Zahl der freien Staaten in der Welt hat in den vergangenen Jahrzehnten stetig zugenommen. Binnen 30 Jahren, von 1973 bis 2003, hat sie sich von 44 auf 88 verdoppelt (Quelle: www.freedomhouse.org.). Und die Zahl der Staaten, in denen demokratische Wahlen abgehalten werden, liegt heute sogar schon bei 119, also fast zwei Drittel aller Staaten in der Welt.



Freiheit ist oft gefährdet

Freiheit ist ansteckend. Und der demokratische Idealismus ist in Wirklichkeit ein Realismus.



Aber Freiheit und Demokratie sind oft genug gefährdet. Sie verschaffen sich nicht von alleine Geltung. Sie müssen errungen und verteidigt werden. Wer nicht mehr für die Freiheit anderer kämpfen, wer Demokratie nicht exportieren will, der macht sich selbst und seine eigenen Werte unglaubwürdig.



Streiten können und müssen wir selbstverständlich jeweils über die Wege, um die Durchsetzung dieser Werte zu erreichen. Es gehört ja gerade zu den demokratischen Tugenden, die wir von den Amerikanern gelernt haben, sich über Sachfragen streiten zu können, ohne die Freundschaft in Frage zu stellen.



Wir sollten aber keine falschen Gegensätze konstruieren. Daß die Vereinigten Staaten die militärisch überlegene, einzig verbliebene Supermacht sind, ist eine Tatsache. Wir können sie und sollten sie unseren amerikanischen Freunden nun wahrlich nicht zum Vorwurf machen.



Wir müssen vielmehr gegenseitig lernen, unsere jeweils unterschiedlichen Fähigkeiten ergänzend einzusetzen. Mit seinem weltweiten Engagement in der Entwicklungspolitik und zur Stärkung der Zivilgesellschaften leistet Europa einen herausragenden Beitrag zum Ausgleich von Konflikten und zur Überwindung von Armut und Elend in der ganzen Welt. Auch das ist eine Strategie - und zwar langfristig die beste - zur Förderung von Freiheit und Demokratie.



In der Vielzahl einzelner, national betriebener Projekte, bleibt vielleicht für Pathos wenig Platz. Dennoch ist Europa eine große Gemeinschaft Freiheit exportierender Staaten. Und wir sollten dies auch als Gemeinschaft mit Amerika verstehen.



Denn das transatlantische Verhältnis ist eine Partnerschaft der Freiheit, und zugleich für die Freiheit.



Das ist der Kern unseres Wertefundaments, es ist die moralische Grundlage unserer strategischen Partnerschaft. ... "Freiheit", schreibt in diesen Tagen der in Stanford lehrende Romanist Hans-Ulrich Gumbrecht, "Freiheit ist heute kein Wort, mit dem man in Europa Staat machen kann." Er diagnostiziert einen "Haarriß in der westlichen Kultur", der in der divergierenden Praxis der Freiheit bei Europäern und Amerikanern erkennbar werde.



Eine unterschiedliche Auffassung von Freiheit könnte in der Tat der tiefer liegende Grund dafür sein, daß viele Europäer fremdeln, wenn sie amerikanischem Freiheitspathos begegnen ... Ich meine aber, daß wir unser Freiheitsverständnis ernsthaft reflektieren und gegenseitig wieder annähern sollten. Aus meiner Sicht heißt das: Wir Europäer und wir Deutsche sollten unseren Begriff von Freiheit ruhig etwas stärker amerikanisieren. Das Gleichheitsstreben darf die Freiheit nicht erdrücken. Mehr Eigenverantwortung und Eigeninitiative, mehr Individualität und Kreativität können unserer Gesellschaft nicht schaden. Im Gegenteil: Sie sind die Voraussetzung für mehr Dynamik und neue Impulse. Das gilt in der Wirtschaft, die zwar auch ihre Regeln braucht, die aber nicht nach demokratischen Prinzipien organisiert werden kann. Zumal in der Europäischen Union müssen wir darauf achten, daß freies Unternehmertum nicht dem Übereifer supranationaler Regulierung zum Opfer fällt. Wir sollten stärker auf die Selbstorganisation der Wirtschaft vertrauen, die dieses Vertrauen umgekehrt durch ein entsprechendes Maß an Verantwortung rechtfertigen muß. Kräfte der Freiheit müssen nicht, wie es manchmal heißt, irgendwie "entfesselt" werden; sie müssen sinnvoll zum Einsatz kommen....



So bedeutsam die unternehmerische Freiheit im Sinne von Erfindungsgeist, Ideenreichtum und Kreativität ist: Das eigentliche wirtschaftliche Geschehen folgt weder dem Prinzip der Freiheit noch der Gleichheit, sondern einem dritten Prinzip, das neben Freiheit und Gleichheit zu den Grundforderungen der Französischen Revolution gehört, nämlich dem Prinzip der Brüderlichkeit. Gemeint ist nicht ein sentimentaler, moralisierender Begriff, sondern ein an der Wirklichkeit orientiertes, organisierendes und gestaltbildendes Prinzip.



Wer sich ohne Vorurteil auf die Wirtschaftswirklichkeit einläßt, wird sich der Erkenntnis nicht verschließen können, daß die Wirtschaft nur dann eine positive Entwicklung nimmt, wenn in möglichst umfassender Weise die Interessen und Bedürfnisse der Wirtschaftssubjekte miteinander vernetzt werden, was übrigens - ungeachtet aller Schwierigkeiten und Streßfaktoren - am ehesten in der globalisierten und damit entgrenzten Weltökonomie gelingen kann und hoffentlich gelingen wird.



Der eigentliche Bereich der Freiheit ist Bildung, Kunst, Erziehung und Kultur, Wissenschaft und Forschung, Universitäten, Forschungseinrichtungen, die gesamten kulturellen Institutionen, müssen von staatlicher Bevormundung, aber auch von der Beherrschung durch bestimmte wirtschaftliche Interessen freigehalten werden. Je mehr Freiheit für das Geistesleben zustande kommt, um so mehr wird es Kreativität, Leistungsvermögen und Leistungsbereitschaft hervorbringen, was wiederum Staat und Wirtschaft zugute kommt.



Wir können auch in dieser Hinsicht von Amerika viel lernen. Ein Beispiel unter vielen sind die äußerst erfolgreichen Stiftungsuniversitäten, aber auch andere sogenannte Non-Profit-Organisationen, wie etwa die Carnegie-Stiftung, das MoMA und viele Forschungseinrichtungen in freier Trägerschaft.



Bei uns in Deutschland wird der Wert der Freiheit ja vor allem in der Freizeit hochgehalten. "Freie Fahrt für freie Bürger" sowie die Freiheit, in Restaurants und Diskotheken zu rauchen, scheinen uns - anders als den Amerikanern - noch immer wichtiger zu sein, als Freiheit in anderen Bereichen, in denen sogleich ungezügelter Sozialdarwinismus gewittert wird.



Ich bin aber überzeugt, daß sich die Freiheitsbegriffe von Amerikanern und Deutschen, von Europäern und Amerikanern, aufeinander zubewegen können. Auf keinen Fall sollten wir versuchen, sie gegeneinander auszuspielen. Unsere Gemeinsamkeiten sind inzwischen so groß, unsere wirtschaftliche und kulturelle Verflechtung ist inzwischen so eng, daß sich die Politik nicht davon entfernen darf.



Auszüge aus Otto Schilys Rede beim Arthur F. Burns Dinner am 3. Juni 2005 in Berlin



Artikel erschienen am Mo, 6. Juni 2005



Quelle: http://www.welt.de/data/2005/06/06/728115.html?s=1
 
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